«Familie – nicht immer heile Welt, aber manchmal heilig»

Gedanken zum Jahr der Familie

Fotos: © by_Bernd Wachtmeister_pixelio.de

Dieses Motto des Bistums St. Gallen möchte ich über die Gedanken zum «Jahr der Familie» stellen, das Papst Franziskus Ende 2020 ausgerufen hat. In diesem «Jahr der Familie», das am 19. März 2021 eröffnet wurde, soll besonders über die Enzyklika «Amoris Laetitia» nachgedacht werden.

Die Hauptanliegen
In einem Interview mit Radio Vatikan hat der Erzbischof von Berlin, Heiner Koch, erklärt, was das Anliegen des Papstes für dieses Jahr ist. Der Papst «selbst schreibt und sagt, dass es eigentlich drei oder vier Hauptanliegen sind. Am 19. März waren es genau fünf Jahre her, dass «Amoris Laetitia» unterzeichnet und veröffentlicht wurde. Er möchte, dass wir erstens den Inhalt von «Amoris Laetitia» in diesem Jahr noch einmal wirklich in den Mittelpunkt der Betrachtungen unseres Denkens setzen sollen und, dass zweitens die Ehe als Sakrament gestärkt werden soll. Die Beobachtung des Papstes ist, dass sehr viel gesprochen wird über die soziologische und juristische sowie psychologische Bedeutung der Ehe, aber die theologische und spirituelle Dimension zu kurz kommt. Das ist das zweite Anliegen, das in den Mittelpunkt rückt und das Dritte ist schlicht und ergreifend, dass er die Familien und die Ehen wirklich als selbst aktiv handelnde Familienpastoral in der Verkündigung im Leben der Kirche ins Bewusstsein heben will. Das sind die drei Hauptanliegen. Immer wieder klingt die Sorge durch, dass gerade jungen Menschen diese Dimension von Ehe und dann Familie überhaupt nochmal deutlich gemacht werden muss, da sie diese oftmals nicht kennen.

Raus aus der Mief-Ecke
Der Papst will die katholische Auffassung von Ehe, Liebe und Sexualität aus der Mief-Ecke von Lebensfeindlichkeit und rigider Lehre holen, in der viele sie sehen. Der christliche Glaube bietet seiner Ansicht nach viel mehr, ohne dass es grosser Änderungen in der Morallehre bedürfe.
Die heilige Familie ist nach den Vorstellungen des Papstes «das Vorbild, in dem alle Familien der Welt Inspiration und einen sicheren Bezugspunkt finden können». Diese Familie wurde jedoch im Laufe der Jahrhunderte so heilig gemacht, dass sie in der Wirklichkeit kaum bestehen kann. Doch sie war in Tat und Wahrheit alles andere als heilig, wenn wir diese Heiligkeit als vollkommen und nur harmonisch definieren. Wer das Neue Testament kennt, weiss um das nicht nur glückliche Familienleben von Josef, Maria und Jesus. Wahrlich, alles andere als eine heilige Familie! Und gerade deshalb ist sie auch heute noch hoch aktuell. Natürlich gibt es in Familien auch Auseinandersetzungen, mitunter sehr heftige. Wenn irgend möglich soll solcher Streit nach Franziskus‘ Worten beendet werden, «bevor der Tag zu Ende geht». Denn der «kalte Krieg des nächsten Tages ist noch schlimmer», so der Papst. Dabei erinnerte er erneut an drei für das Zusammenleben wichtigen Worte: «Bitte, Danke und Entschuldigung».
In der breiten Öffentlichkeit wird immer wieder davon gesprochen, dass rund 50% aller Ehe geschieden werden. Dabei wird aber vergessen, dass es auch 50% Ehen gibt, die halten. Ehen, in denen die Menschen ihr Glück gefunden haben. Auch das gilt es zu sehen.
Es gibt auch heute noch glückliche Familien, in denen es hie und da auch Krach und Krisen gibt, die sich aber immer wieder «zusammenraufen», siebenundsiebzigmalsiebenmal einander verzeihen und sich unzählige Male eine neue Chance geben. Papst Benedikt XVI. hat anlässlich des 7. Weltfamilientreffens in Mailand im Juni 2012 folgende Ratschläge gegeben um in Partnerschaft und Familie in der Liebe zu wachsen: «eine ständige Beziehung zu Gott unterhalten und am kirchlichen Leben teilnehmen, den Dialog pflegen, den Standpunkt des anderen respektieren, bereit sein zu dienen, geduldig sein mit den Schwächen des anderen, fähig sein zu verzeihen und um Verzeihung zu bitten, eventuelle Konflikte mit Verständigkeit und Demut überwinden, die Richtlinien der Erziehung miteinander abstimmen, offen sein für die anderen Familien, aufmerksam gegenüber den Armen und verantwortlich in der zivilen Gesellschaft. All das sind Elemente, die die Familie aufbauen. Lebt sie mutig, in der Gewissheit, dass ihr in dem Mass, in dem ihr mit Hilfe der göttlichen Gnade die Liebe zueinander und zu allen lebt, ein leben-diges Evangelium, eine wirkliche Hauskirche werdet». 

Wiederverheiratete Geschiedene
Dieses Jahr der Familie möchte «das Ideal der ehelichen und familiären Liebe neu vor Augen führen», so Franziskus und die Verkündigung der Ehe als Sakrament intensivieren. Das Ideal soll allerdings so vermittelt werden, dass es Paaren und Familien angesichts ihrer eigenen Lebensverhältnisse und Schwierigkeiten wirklich hilft. Auf diese Schwierigkeiten ist Papst Franziskus in seinem am 19. März 2016 unterzeichneten Schreiben «Amoris Laetitia» eingegangen. etwas anderes. In diesem Schreiben wurde auch die Frage nach einer Wiederzulassung von wiederverheirateten Geschiedenen zur Kommunion angesprochen. ranziskus in dieser Sache am notwendigen Mut fehlte, um hier eine klare Lehrentscheidung zu treffen. Vielmehr versteckte er seine offensichtliche Überzeugung in der Fussnote 351 von «Amoris Laetitia» wo es heisst, dass wiederverheiratete Geschiedene unter Umständen auch die «Hilfe der Sakramente» erhalten könnten. Das heisst, dass in Einzelfällen die Zulassung zu den Sakramenten der Versöhnung und der Eucharistie möglich ist. Voraussetzung dafür ist, dass das Gespräch mit einem Seelsorger gesucht wird, um gemeinsam herauszufinden, was in der jeweiligen konkreten Lage Gottes Wille ist.

Oft wird man dann entdecken, dass eine geschiedene und wiederverheiratete Person «in der Gnade Gottes leben kann, dass man lieben kann und dass man auch im Leben der Gnade und der Liebe wachsen kann, wenn man dazu die Hilfe der Kirche bekommt». 


Bereits in seinem apostolischen Schreiben «Evangelii gaudium» aus dem Jahr 2013 betonte der Papst, dass die Eucharistie «nicht eine Belohnung für die Vollkommenen, sondern ein grosszügiges Heil-mittel und eine Nahrung für die Schwachen» (Nr. 47) ist. Deshalb sollen die Menschen, deren Ehe gescheitert ist, sehen und spüren dürfen, dass sie «Teil der Kirche sind, dass sie keineswegs exkommuniziert sind und nicht so behandelt werden, weil sie immer Teil der kirchlichen Gemeinschaft sind», so der Papst. 

Barmherzigkeit
Es wäre falsch, wollte man damit unterstellen, es sei in der heutigen Zeit nicht mehr möglich in einer Ehe zu leben, in der die gegenseitige Treue die wesentliche Rolle spielt. Es gibt unzählige Menschen, die in einer glücklichen Familie aufwachsen; es gibt Frauen und Männer, die ein erfülltes Eheleben haben; es gibt Kinder, die wohl hie und da über die Stränge schlagen, was ja in einer Phase der menschlichen Entwicklung normal ist, die aber dennoch, ja vielleicht gerade deshalb, eine Bereicherung sind. 
Die Realität zeigt aber ebenfalls, dass viele, auch gläubige, Menschen an der Forderung nach ehelicher Treue nicht nur scheitern, sondern oft auch zerbrechen. 
Hier nützt es nichts, mit mahnendem Zeigefinger auf das Eheversprechen zu pochen, das man sich vor einigen Jahren oder Jahrzehnten gegeben hat. Gewiss waren die Allermeisten damals voll guten Willens, aber innere und äussere Umstände haben zum Scheitern dieser Liebesbeziehung geführt. Niemand darf sich anmassen, diese Menschen zu verurteilen. Das ist Sache Gottes und er sieht viele Dinge und Ereignisse ganz anders als wir Menschen. Er will in erster Linie Barmherzigkeit (Mt 9, 13), sagt Jesus. 
Vor allem braucht es auch Barmherzigkeit gegenüber Menschen, die in schwierige, komplexe Situationen geraten: wenn Ehen zerbrechen, Paare sich trennen und die ehemaligen Partner einen Neuanfang in einer neuen Beziehung suchen. Die Barmherzigkeit Jesu besteht darin, dass er sich die Klage der Leidenden anhört und die Menschen so annimmt, wie sie sind. 


Die Begegnung mit Jesus wirkt heilsam. Wer das am eigenen Leibe und an der Seele erfahren hat, wird fähig, selbst barmherzig zu sein. Wer meint, er könne mit dem Finger auf gescheiterte Menschen zeigen, möge sich an das Wort von Papst Franziskus erinnern, dass es auch im Zusammenhang von Ehe und Familie und deren Scheitern notwendig sei, «vor dem heiligen Boden des anderen sich die Sandalen von den Füssen zu streifen» (vgl. Ex 3, 5). Das hilft, damit unsere Familien zwar «nicht immer heile Welt sind, aber manchmal heilig».

Paul Martone