
«Siehe, schön bist du, meine Freundin, siehe, du bist schön. Wie ein purpurrotes Band sind seine Lippen.
Deine Brüste sind wie zwei Kitzlein, die Zwillinge einer Gazelle, die unter Lilien weidet.
Verzaubert hast du mich, meine Schwester Braut; verzaubert mit einem Blick deiner Augen.
Wie schön ist deine Liebe, meine Schwester Braut, wie viel süsser ist deine Liebe als Wein, der Duft deiner Salben köstlicher als alle Balsamdüfte.
Mein Geliebter komme in seinen Garten und esse von seinen köstlichen Früchten!»
(Hoheslied 4,1.3.5.9.10.16)
Wie eine Perle in einem Schmuckkästchen hat das Hohelied (d. h. das schönste aller Gedichte, wie man sagt «für immer und ewig») nach vielen Irrungen und Wirrungen seinen Platz in der Heiligen Schrift gefunden. Das war nicht ganz einfach, denn es handelt sich um ein wahrhaft erotisches Gedicht, das die gegenseitige fleischliche Hingabe der Eheleute besingt, als wesentliches Bild für Gottes unerschütterliche Zärtlichkeit für die Menschheit. Die spirituelle Tradition hat es auch zum Modell für die mystischen Bande zwischen der Seele und ihrem Herrn gemacht, der eben «Mein Geliebter» genannt wird.
Verschiedene Perspektiven
Dies zeigt ganz deutlich, dass die körperliche und sexuelle Dimension, die uns vom Schöpfer in unser Dasein eingeschrieben wurde, unsere Vertrautheit mit Christus voll und ganz charakterisiert. So sehr, dass dieser sich selbst als den Bräutigam seiner Geliebten, der Kirche, darstellt. Die geistliche, kirchliche, theologische und fleischliche Perspektive durchdringen sich also gegenseitig, so dass jedes Paar durch die Treue und die gegenseitige Hingabe der Körper und Herzen in der sexuellen Beziehung ein umfassendes und ergreifendes Bild der Liebe bietet, mit der Gott uns alle erfüllen will (siehe das Schreiben Amoris laetitia von Papst Franziskus, «Eine leidenschaftliche Liebe. Die erotische Dimension der Liebe», Nr. 142–162).
In dieser Hinsicht ist es bedauerlich, dass die Sonntagsliturgie nie «Das Hohelied» in die aktuellen Lektionare aufnimmt: es wird «nur» bei Hochzeitsfeiern vorgetragen. Wenn es auch am Sonntag verkündet würde, könnte es Anlass zu schönen Katechesen über die Sexualität als Ort der evangelischen und biblischen Entfaltung geben!
François-Xavier Amherdt