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Sowohl die Bibel als auch der Koran enthalten Worte, die im Namen Gottes die Tötung von Schuldigen oder die Steinigung von Ehebrechern fordern. Hier sind einige Bedingungen für die Auslegung solcher Texte, denn ohne die Einhaltung dieser Prinzipien kann man in Gefahr geraten, abscheuliche Taten mit den christlichen Schriften zu rechtfertigen.
1. Ein Text kann nie aus seinem historischen Kontext herausgelöst und ohne weiteres auf die heutige Zeit angewendet werden. Einige Passagen sind nämlich stark von der Zeit ihrer Entstehung geprägt. Das mosaische Gesetz über Sklaverei, Ausländer oder Sexualpraktiken ist nicht mehr wörtlich gültig, da sich die heutigen Umstände geändert haben.
2. Ein Vers kann nicht aus dem Kapitel oder Buch, in dem er steht, herausgelöst und als sofortiges Rezept für eine zeitgenössische Situation vorgesetzt werden. Der Text verlangt eine Auseinandersetzung mit ihm und seinen scheinbaren Doppeldeutigkeiten oder Widersprüchen (wie bereits die beiden Schöpfungsberichte in Genesis Kapitel 1 und 2), was uns von aller Spitzfindigkeit oder jeglichem Fundamentalismus abhält.
3. Die Heilige Schrift übt in ihrem Inneren eine wahrhaft progressive Pädagogik aus. Sie holt das Bundesvolk dort ab, wo es steht, zum Beispiel vor 3000 Jahren, als sie Gott aufforderte, die Gegner auszurotten, und führt es Schritt für Schritt zur Fülle der Offenbarung in Jesus Christus, der uns dazu auffordert, nach dem Vorbild des Vaters unsere Zärtlichkeit so weit auszudehnen, dass wir unsere Feinde lieben.
4. Die empfohlene Methode für die Bibellektüre ist die sogenannte «kanonische Auslegung, d. h. man betrachtet für jeden Textabschnitt, was die gesamte Bibel sagt.
5. Die Bibel ist weder ein Gesetzbuch noch ein Reservoir an fertigen Antworten auf Fragen, die sich die Verfasser nicht stellen konnten.
Widersetzen wir uns also dem Missbrauch von Zitaten aus dem Alten Testament, die von ihrem ursprünglichen Nährboden abgeschnitten und ohne zu überlegen angewendet werden, um im Jahr 2025 Normen zu setzen. Eine Kontextualisierung im Licht der gesamten Schrift ist immer unerlässlich, denn sie ist die Gute Nachricht des Lebens.
François-Xavier Amherdt