Sind die Armen Seelen wirklich arm?

Gedanken zum Totenmonat
Im November wird oft von den «Armen Seelen» gesprochen, die im Fegefeuer leiden müssen und die mit zahlreichen religiösen Aktivitäten wie Messen, Gebe-ten und guten Taten möglichst bald aus diesem schrecklichen Feuer herauszuholen sind. 
Fragen wir uns im Folgenden was es denn mit den so genannten «Armen Seelen im Fegefeuer» auf sich hat. Sind diese Seelen wirklich arm? Was kommt nach dem Tod?

Der ohnmächtige Allmächtige
Man spricht immer davon, dass sich die Armen Seelen im Fegefeuer befinden. Was ist darunter zu verstehen? Während unserem ganzen Leben bietet uns Gott immer wieder seine Freundschaft an, doch drängt er sie uns nicht auf, sondern bittet darum. Er steht vor der Tür und klopft an. Er tritt diese Türe jedoch nicht ein, sondern lässt uns die Freiheit sie ihm zu öffnen, damit er eintreten und mit den Menschen, die geöffnet und sein Wort gehört haben, Mahl halten kann (Offenbarung 3, 20). Immer wieder klopft Jesus an und gibt mir die Möglichkeit, mich für ihn zu entscheiden. Wenn sich jemand aber gegen ihn entscheidet und nichts mit ihm zu tun haben will, respektiert Jesus diesen Entscheid. Hier wird der allmächtige Gott wirklich ohnmächtig, denn Liebe zwingt nicht, sie lädt ein – immer wieder, und ich habe während meines ganzen Lebens die Chance mich zu entscheiden. 

Fresko in der Burgkirche von Raron. Foto: P. Martone

«Die Lebensentscheidung des Menschen wird mit dem Tod endgültig – dieses sein Leben steht vor dem Richter. Sein Entscheid, der im Laufe des ganzen Lebens Gestalt gefunden hat, kann verschiedene Formen haben. Es kann Menschen geben, die in sich den Willen zur Wahrheit und die Bereitschaft zur Liebe völlig zerstört haben. Menschen, in denen alles Lüge geworden ist; Menschen, die den Hass gelebt und die Liebe in sich zertreten haben. Dies ist ein furchtbarer Gedanke, aber manche Gestalten gerade unserer Geschichte lassen in erschreckender Wei-se solche Profile erkennen. Nichts mehr wäre zu heilen an solchen Menschen, die Zerstörung des Guten unwiderruflich: Das ist es, was mit dem Wort Hölle bezeichnet wird. Auf der anderen Seite kann es ganz reine Menschen geben, die sich ganz von Gott haben durchdringen lassen und daher ganz für den Nächsten offen sind – Menschen, in denen die Gottesgemeinschaft jetzt schon all ihr Sein bestimmt und das Gehen zu Gott nur vollendet, was sie schon sind» (Benedikt XVI., Spe salvi Nr. 45). Von diesen Menschen können wir annehmen, dass sie im Himmel sind.

Das Fegefeuer
Papst Benedikt XVI. fährt in seiner Enzyklika fort, dass «weder das eine noch das andere nach unseren Erfahrungen der Normalfall menschlicher Existenz» ist. Bei den allermeisten bleibe «ein letztes und innerstes Offenstehen für die Wahrheit, für die Liebe, für Gott im tiefsten ihres Wesens gegenwärtig». Durch verschiedene Umstände und falsche Entscheidungen werde dieses Offenstehen für Gott jedoch verdeckt. Es bleibe aber immer «der Durst nach dem Reinen», das «doch immer wieder über allem Niedrigen hervortritt und in der Seele gegenwärtig bleibt». Was geschieht mit solchen Menschen, die zeit ihres Lebens nicht immer nur gut, aber auch nicht immer nur böse waren, wenn sie vor Gottes Richterstuhl treten? Wie können wir dieses göttliche Gericht beschreiben?

Was Ihr seid / das waren wir! – Was wir sind / das werdet ihr

Beinhaus in Naters Foto P. Martone

Vielleicht so: die Freundschaft mit Gott in aller Klarheitsehen und ganz zu Ende denken. Wir werden dann sehen, wie Gott uns zeitlebens gesucht hat; wie er uns in ganzer Liebe zugewandt war; wie er uns die Freundschaft angeboten hat. In dieser Stunde der Wahrheit werden wir erkennen, wer wir sind; alle Masken werden fallen; alle Illusionen und Selbsttäuschungen wie Seifenblasen platzen. Im Angesicht Gottes werden wir auf einmal begreifen, was wir sind und was wir hätten sein können. Diese Einsicht schmerzt uns Menschen, denn wir erkennen unsere Lauheit in der Freundschaft mit Gott. Gott hält uns den Spiegel vor, schaut uns voller Liebe an. Wir sehen darin die Güte und Liebe Gottes und erkennen gleichzeitig wie wenig wir aus Engstirnigkeit oder Angst imstande waren auf diese Liebe zu antworten und gottgefällig zu handeln.

Fresko an der Ringackerkapelle, Leuk Foto: P. Martone

Wir werden erkennen, dass unser Herz stets unruhig war, weil wir die Einladung Gottes zur Freundschaft nur halbherzig beantwortet haben, weil wir die Ruhe für unser Herz an den falschen Orten gesucht haben und nicht bei Gott, auf den hin wir geschaffen wurden. Das Fegefeuer, auch Purgatorium genannt, lässt uns Gott erfahren und erkennen. Diese Erkenntnis durchfährt den Menschen vor dem göttlichen Gericht wie Feuer, reinigt und läutert ihn wie durch Feuer hindurch. 

Kein Ort
Fälschlicherweise sprach man früher oft vom Reinigungsort und meinte damit, das Fegefeuer befinde sich an einem real existierenden Ort. Dem ist nicht so! Es geht vielmehr um einen Zustand der Seele, die das Heimweh nach Gott quält, weil wir im Gericht hautnah erfahren haben, was Gottes Liebe und Barmherzigkeit wirklich ist und wir nun doch nicht zu diesem Gott gehen können. Wer schon einmal richtig Heimweh hatte, weiss, wie schlimm das sein könnte. So stelle ich mir das Fegefeuer vor: ein Fernsein von Gott mit grossem Heimweh nach ihm. Der Schulseelsorger und Sprecher der Karl-Leisner-Jugend, Peter von Briel, umschreibt das Fegefeuer wie folgt: «Nach dem Tod wartet die absolute Liebesbeziehung mit Gott und mit allen, die sich darauf einlassen können. Beides – die Liebesbeziehung zu Gott und die Gemeinschaft der Heiligen – ist untrennbar verbunden. Aber es wird Seelen geben, die das nicht möchten, die davor Angst haben oder Gott immer aus dem Weg gegangen sind. Bei denen kann es sein, dass sie der Überzeugungskunst Gottes bedürfen und noch einmal das durchleiden müssen, was sie vom Himmel trennt.»

Glasfenster Gedenkstätte Heroldsbad     Foto Poss

Arme Seelen?
Dieses Leiden und schmerzhafte Fern-sein ist jedoch nicht ewig. Die Verstorbenen wissen, dass sie gerettet sind (der Katechismus spricht davon, dass sie «eines ewigen Heiles sicher» sind) und nach einer gewissen Zeit der Heimatlosigkeit zu Gott gehen und dort ewig bei ihm sein dürfen. Deshalb finde ich den Begriff «Arme» Seelen irreführend. «Diese Seelen müssen eine Läuterung durchmachen um die Heiligkeit zu erlangen, die notwendig ist, um in die Freude des Himmels eingehen zu können.» (KKK 1030). Der nicht mehr sehr geläufige Begriff «Läuterung» heisst in diesem Zusammenhang, dass die Verstorbenen, die in der Gnade und Freundschaft Gottes gestorben sind, im Angesicht Gottes erkennen können, was nicht in Ordnung war und dass sie dann vor Gott eine Heilung erfahren. Damit bekommt das Purgatorium in der katholischen Theologie nach wie vor eine wichtige Aufgabe, aber einen neuen Klang und eine neue Dimension. Die Angst vor einer zeitbegrenzten Hölle ist nicht mehr notwendig, ich darf hoffen, dass ich von Christus erwartet werde und dass er mir so begegnet, dass ich durch seinen Blick Heilung erfahre und dann in die Herrlichkeit Gottes eingehen kann. Wir brauchen keine Zeitdimension mehr, es geht um die Vorstellung, auch als nicht Vollkommener in die guten Hände Gottes zu fallen. Wenn wir uns dessen bewusst sind, erkennen wir, dass wirklich arm jene Seelen sind, die in der Hölle sind, denn das nennen wir Hölle: endloses Fernsein von Gott mit ewigem Heimweh nach ihm. Die Hölle ist Ewigkeit gewordene Sünde, Ewigkeit gewordene Trennung von Gott. Nicht Gott hat den Menschen verdammt, sondern der Mensch, der Gott immer aus dem Weg gegangen ist, verdammte sich selbst durch sein lebenslängliches «Nein!» zur Freundschaft mit Gott. Diese Erkenntnis schmerzt erst recht, denn dieses unendliche Heimweh nach Gott wird nie gestillt werden können. 
Bei allen Fragen, irritierenden Darstellungen und Sagen um die sogenannten Armen Seelen, kann uns ein Satz von Dorothee Sölle die Richtung zu einer Antwort geben, die trägt: «Christlich gesprochen liegt der Tod immer hinter uns, vor uns aber die Liebe.»

Paul Martone                                                                                                                         

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