Christliche Kultur auf dem Rückzug

Raron / Foto Sr Catherine

Viele Pfarrer in unseren Gegenden sind nicht nur für die Seelsorge in ihren Pfarreien zuständig. Oft sind sie auch verantwortlich für den Unterhalt von historisch wertvollen Gebäuden und Kulturgütern. 

Denn sie wissen nicht, was sie tun
Als Pfarrer von Raron bin ich auch der «Schirmherr» der weltweit einmaligen Felsenkirche aus dem Jahr 1972 und der historisch wertvollen Burgkirche aus dem Jahr 1513. Es ist erfreulich, dass beide Kirchen vor allem in den Sommermonaten zahlreiche Touristen anlocken, die diese Gotteshäuser besuchen.
Wenn ich bei solchen Besuchen in einer meiner Kirchen bin und beobachte, wie sich die meisten Touristen verhalten, so weiss ich oft nicht, ob ich lachen, mich ärgern oder weinen soll. Ich sehe dann nämlich, wie die meisten Besucher sich nicht bewusst sind, dass sie sich nicht in einem Museum oder einem Konzertsaal befinden, sondern in einem Gotteshaus, in dem gewisse Anstandsregeln gelten. Dass sie schwatzend in die Kirche kommen, den Hut auf dem Kopf und den triefenden Regenschirm in der Hand, mag ich ja noch mit viel Toleranz akzeptieren. Dass manche aber in der Kirche ihr Pick-nick auspacken, sich auf den Altar setzen, um ein gutes Foto machen zu können, über-steigt meine Schmerzgrenze. Am ärgerlichsten ist es für mich aber, wenn während einer Pfarreimesse die Kirchentüre aufgeht und eine ganze Busladung voller Touristen in die Kirche stürmt, überall herumläuft und Fotos schiesst, ohne sich im Geringsten dadurch stören zu lassen, dass gerade eine heilige Messe gefeiert wird. 
In anderen Pfarreien habe ich erlebt, wie etwa bei der Fronleichnamsprozession, die ja mit viel Traditionen verbunden ist, Touristen am Wegrand stehen und die Betenden, die in der Prozession mitlaufen, betrachten wie Wesen aus einer anderen Welt und sich dann mit ihren Fotoapparaten und Handys mitten in die Prozession stellen und dort die Betenden auffordern, stehenzubleiben, damit sie ein gutes Foto machen können. Das Wort Jesu fällt mir in diesem Zusammenhang immer wieder einmal ein: «Denn sie wissen nicht, was sie tun!» (Lukas 23, 34).
Was ich hier berichte, sind keine Märchen, sondern beruht auf tatsächlichen Erlebnissen. Es zeigt, dass viele Menschen, Erwachsene und Kinder, keinen Bezug mehr haben zu kirchlichen Einrichtungen, Traditionen und Gegenständen, die Ausdruck des Glaubens und der Verehrung Gottes sein wollen. 
Solche und ähnliche Anekdoten könnten wohl viele Museumskonservatoren, Geschichtsprofessoren und Geistliche erzählen. Für Calixte Dubosson, Chorherr der Abtei von Saint-Maurice, gilt dasselbe auch für die biblischen Geschichten und der damit verbundenen kulturellen Begebenheiten. Er hat sich dazu seine Gedanken gemacht, die wir im Folgenden wiedergeben möchten. «Niemand ist Prophet im eigenen Land, das gemästete Kalb schlachten, seinen Weg nach Damaskus finden, die Spreu vom Weizen trennen: All diese Ausdrücke aus dem biblischen Wortschatz finden oft keinen Widerhall mehr bei den jüngeren Generationen, die dieser Kultur, in die sie nicht eingetaucht sind, und völlig entfremdet sind.»
Und alle sind sich einig, dass die heutige religiöse Unwissenheit zu beklagen ist. Es stellt sich also die Frage: Wie konnte es so weit kommen? 

Nach der Taufe erhalten fast alle Kinder Religionsunterricht (Foto: CIRIC)

Versäumnisse bei der Übermittlung von Werten
«Wir sind Christen, genauso wie wir Deutsche oder Perigordianer sind.» Wer würde diese Aussage von Montaigne aus dem 16. Jahrhundert heute noch teilen, in einer Gesellschaft, die den Pluralismus als eines ihrer charakteristischsten Merkmale anerkennt? Wie kommt es, sagen uns die Grosseltern, dass wir alle Anstrengungen unternehmen konnten, um die Menschen so gut wie möglich im Glauben zu unterrichten, und dass das Ergebnis so mittelmässig, wenn nicht sogar negativ ist?
Nach der Taufe erhalten fast alle Kinder Religionsunterricht, um zur Kommunion, zur Firmung und eines Tages zur kirchlichen Trauung zugelassen zu werden; am Tag nach der Kommunion oder der Firmung «sieht man sie nicht mehr», d. h. es bleiben nur wenige übrig, deren Treue durch den Besuch der Sonntagsmesse sichtbar wird. Ein Pfarrer beschwerte sich bei seinen Mitbrüdern über die ständige Anwesenheit von Fledermäusen in seiner Kirche. Er hatte alle Mittel eingesetzt, um sie loszuwerden, aber ohne Erfolg. Einer seiner Kollegen schlug ihm vor, sie zu taufen und zu firmen, und so löste er sein Problem. Ein humorvoller Scherz, der das allgemeine Gefühl einer Katechese widerspiegelt, die ihr Ziel nicht erreicht.
Die Dynamik des christlichen Glaubens verlangt von uns, das weiterzugeben, was wir empfangen haben. Zweimal verwendet Paulus die Verben «empfangen» und «überliefern» als untrennbares Paar: «ich habe vom Herrn empfangen, was ich euch dann überliefert habe»; «Ich habe euch überliefert, was auch ich empfangen habe» (1 Kor 11, 23; 15, 3). Das ist die Logik der Kirche von Anfang an: die Weitergabe des Zeugnisses von einem zum anderen. Der Glaube war nie eine absolut isolierte und einsame Erfahrung und wird es auch nie sein.

Foto: CIRIC

Hier scheint das eigentliche Problem des Verlustes eines grossen Teils der christlichen Kultur zu liegen, die Hier scheint das eigentliche Problem des Verlustes eines grossen Teils der christlichen Kultur zu liegen, die sich lange Zeit aus Traditionen und Lebensweisen speiste, die fest in der Gesellschaft verankert waren und niemand kam auf die Idee, diese in Frage zu stellen. Möglicherweise ist das Evangelium in den Hintergrund getreten und hat daher den tieferen Sinn, der diesen Traditionen und religiösen Praktiken ihre volle Legitimität verliehen hat, nicht durchdrungen. Das Ergebnis ist eine fortschreitende Abkehr von der religiösen Praxis durch eine Generation, die sich, wie die Gesellschaft insgesamt, einem Individualismus zuwendet, der nicht mehr in den Massenveranstaltungen, die bei den Älteren üblich waren, seinen Platz findet.

Foto: CIRIC

Wiederaufleben von individuellen Praktiken
Darüber hinaus ist ein breiter Trend zur Entchristlichung zu beobachten, wie die Debatte in der Christdemokratischen Volkspartei über die Streichung des «C» und die Umbenennung in «Die Mitte» zeigt. Das deutet darauf hin, dass «das Christentum in einem Land, dessen Flagge ein Kreuz ziert (wie lange noch?), zu einer Vogel-scheuche geworden ist», so Thibaut Kaeser im Echo Magazin vom 8. Oktober 2020. «Das Christentum, das uns so sehr geprägt hat, in den Hintergrund zu drängen, sich seiner zu schämen oder zuzuschauen, wie es gar ausgelöscht werden soll… Das ist die Herausforderung, vor der wir stehen. Das ist eine globale Herausforderung», fährt unser Gesprächspartner fort.

Verstreuung der Asche (Foto: CIRIC)

Eine weitere Herausforderung, die auf die von Johannes Paul II. gewünschte Neuevangelisierung wartet, ist das Wiederaufleben der individuellen spirituellen Praktiken. Hier und da entsteht ein «Naturkult», der von der grünen Welle der Politik gefördert wird und der den Kampf gegen die globale Erwärmung sowie die Verteidigung und den Schutz der Umwelt in den Mittelpunkt stellt. Immer mehr Menschen, auch Christen, entscheiden sich in ihrem Testament für eine Bestattung und Verstreuung der Asche in der Natur. Diese Initiativen könnten als ein Akt des Atheismus verstanden werden, da sie, indem sie spurlos verschwinden, eine «Rückkehr ins Nichts» fordern. Gott ist nicht mehr der Schöpfer, sondern das Geschöpf wird zu Gott.
Da die Natur eine Leere verabscheut, müssen die alten Riten durch moderne ersetzt werden. «Sehen Sie, Herr Pfarrer», vertraute mir ein Gemeindemitglied an, «selbst in unserem zu 90 % christlichen Dorf gibt es jetzt einen Yogaraum, dessen Betreiber die Leute wegen Überfüllung abweisen müssen, es gibt Eltern-Kind-Erfahrungen unter dem Namen “Magische Momente”, es werden Steine der Weisen verkauft, die man trägt um positive Wellen anzuziehen!»

Foto: CIRIC

Ein Licht in der Nacht
Die neue Situation in einer Gesellschaft wie der unseren, ist die einer Weitergabe, die sich ausdrücklich an Jugendliche oder Erwachsene richten soll, die nie etwas empfangen haben, die nie katechisiert oder gar getauft wurden.
Dies ist ziemlich anders als bei denjenigen, die eine christliche Erziehung erhalten haben und sich bewusst dafür entschieden haben, ihr Leben in einer Art und Weise zu denken und zu leben, die dem Glauben an Jesus Christus fremd sind. Wie können diese Jugendlichen und Erwachsenen, die keinen christlichen oder gar religiösen Hintergrund haben, durch einen Prozess der Weitergabe erreicht werden? «Der zeitgenössische Mensch hört lieber auf Zeugen als auf Gelehrte, und wenn er auf Gelehrte hört, dann deshalb, weil sie Zeugen sind» 
(Paul VI., Evangelii nuntiandi, 1975, Nr. 41). 

Vielleicht werden in ein oder zwei Generationen auch diejenigen, die ohne eine genaue Vorstellung vom Evangelium gelebt haben, es als einen Schatz entdecken und zu seinen Verkündern werden? Die Geschichte wird es uns zeigen.

Chorherr Calixte Dubosson
Paul Martone
                                                                                                                         

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