Die grosse Frage nach dem Sinn des Leidens

Warum?

Foto: © Dieter Schütz_pixelio.de

Das Erdbeben in der Türkei und in Syrien vom Februar mit zehntausenden von Toten und vielen Verletzten hat auch die Frage nach dem Warum aufgeworfen. Warum lässt Gott dieses Leid zu? Wa­rum gibt es eigentlich so viel Leid in der Welt? Wo bleibt da der liebende, mächtige Gott, der uns als guter Vater und liebende Mut­­ter vorgestellt wird? 

Fragen erlaubt, aber…
Fragen über Fragen, die uralt sind und des­­halb auch zutiefst menschlich. Es ist daher auch erlaubt diese Fragen zu stellen, ja sogar Gott ins Gesicht zu schreien.
So einfach es ist, diese Fragen zu stellen, so schwierig ist es, sie zu beantworten, denn alle «noch so brillanten Antworten darauf in Geschichte und Gegenwart muss­­­ten und müssen an irgendeiner Stel­l­e einen letzten Rest an Sinngebung schuldig bleiben» (Johannes B. Brant­schen). Auch als Christ darf ich he­r­aus­finden wollen, warum es denn eigent­lich so ist. Aber eine Antwort, die diese Fra­gen zum Schweigen bringt, gibt es wohl gar nicht. Bei allzu grausamen und un­­fassbaren Schicksals­schlä­gen dür­fen wir zugeben, dass wir sie nicht verstehen. Bei allem Nachdenken bleibt die Hilf­losigkeit, und jeder Ant­wort­versuch führt zu einer neuen Frage. Letztgültige Ant­worten bleiben aus. Das einzugestehen und auch zu akzeptieren, kann vielleicht der erste Schritt sein, um über das Leid nachzudenken, ohne es zu zerreden und gar den vom Leid Betroffenen billigen Trost zusprechen zu wollen.

Leere Hände
Vielleicht hat Pierre Veuillot (1913-1968) recht, wenn er schreibt: «Wir verstehen es meisterhaft, schöne Sätze übers Lei­den zu machen. Auch ich habe übers Leiden in ergreifender Weise gepredigt. Sagen sie den Priestern, sie sollen lieber schweigen. Wir wissen nämlich nicht, was Leiden heisst. Als ich dies einsehen musste, habe ich nur noch geweint». Ja, manchmal ist das Weinen das einzige, das uns bleibt angesichts des schrecklichen Leids, das Menschen und ganze Völker trifft. Die Frage nach dem Warum, tausendmal gestellt, nicht nur heute: Kei­ner kann darauf etwas sagen. Jeder einzelne von uns steht da mit leeren Hän­den, und auch, wer nur irgendwie an Gott glaubt, kann und darf diese leeren Hän­de Gott entgegenstrecken und ihm sein Un­­verständnis, seine Fragen und vielleicht auch seinen Zorn entgegenhalten.

Der Glaube ist kein Medikament
Alles Alltägliche scheint so sinnlos angesichts der Bilder, die uns aus der Türkei und Syrien erreichen. Aber auch angesichts der Bilder vom Krieg in der Uk­­raine und solche von Menschen, die wir kennen und liebhaben und die durch eine schwere Krank­heit niedergestreckt wurden. Wir kön­nen zwar versuchen, einander zu helfen. Wir können miteinander spre­chen und nach­­denken. Aber wir können gar keine Wor­te finden und erst recht kei­­ne rechte Antwort. Es bleibt so vieles unbeantwortet. 
Der hl. Paulus hilft uns vielleicht ein we­­nig weiter, wenn er schreibt, dass wir uns als Christen auch trösten sollen «mit der Botschaft unseres Glaubens». Was aber kann uns der Glaube hier helfen?, frägt sich vielleicht der eine oder die andere! Der Glaube macht all dies nicht leichter. Aber der Glaube kann Licht in das Dunkel der Sinnlosigkeiten bringen. Gott kann unsere leeren Hände füllen. Das, womit er unsere leeren Hände füllen kann, ist wenig und viel zugleich: Wenig, wenn es darum ginge, den Schmerz möglichst bald zu besiegen und die Antwort auf alle Fragen zu be­­kommen. Der Glaube ist kein Medika­ment, das man schluckt, und dann wird alles anders. Er macht nichts ungeschehen oder löscht das Schreck­liche spurlos aus.

Foto: © Poss

Das Kreuz Christi
Es bleibt uns nichts anderes übrig, als unseren Blick auf das Kreuz Jesu Christi zu richten. Da gibt es nichts zu verharmlosen: Am Kreuz hängt nicht ein glorreicher Gottmensch, der über alle Schmer­zen erhaben ist. Nein! Jesus hat die glei­­chen quälenden Fragen gehabt, die gleiche Verzweiflung gespürt, die gleichen Schmerzen erlitten, wie sie jeder andere Mensch bei Krankheit und Katastrophen und schliesslich im Sterben erleidet. Diese Fragen hat er seinem Gott, auf den er sein Leben lang gehofft hat, entgegengeschrien, so, als habe er ein Recht auf eine Antwort, aber auch so, als ob es eine Antwort geben muss: «Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?». Ein Schrei, den wohl schon viele Menschen in ihrer Ver­­zweif­lung ausgerufen haben als sie erleben mussten, wie alles, das ihnen lieb und teuer war, zusammenbrach und zerstört wurde. Und oft geht es uns ähnlich wie Jesus am Kreuz, dass wir Gott nicht spüren, keine Nähe, kein Eingreifen. Wir erfahren Gott als fern und abwesend, gleichgültig und nicht an unserem Leid und Unglück interessiert. «Vielleicht muss Gott aber so weit weg sein, um unser richtiger Gott sein zu können, dass er abwesend und schweigend sein muss, um unser naher Gott sein zu können. So glauben wir doch: Nie war Gott der Welt so nahe, so liebend nahe wie eben in jenem Augenblick am Kreuz. Nie war Gott der Welt so nahe wie damals, als sein Sohn klagte, Gott habe ihn verlassen» (Hermann-Josef Venetz).

Der nahe ferne Gott
Dieser Gott Jesu Christi ist in seiner Ab­­wesenheit, in seinem Schweigen und in seiner Ferne auch uns nahe. Gerade dann, wenn wir meinen, wir wären ans Kreuz genagelt, wir wären am Ende und es würde niemanden geben, der sorgend für uns da ist. Gerade im Leiden und im Sterben ist Gott bei uns. Weil Jesus für uns gestorben und auferstanden ist, brauchen wir nicht zu verzweifeln – das ist unser Glaube an die Auf­er­stehung!

Das Ende unseres Lebens und unseres Sterbens – wie immer es ge­­sche­hen mag – ist dann nicht ein Sarg oder eine Urne mit unserer Asche, sondern die Auferstehung vom Tod, ewiges Leben bei Gott, denn Gott will nicht den Tod, sondern das Leben. Darauf dürfen wir bauen und darauf uns verlassen.

Erdbeben in der Türkei. Foto © Caritas

Das hat er uns in der Auferstehung Jesu gezeigt. Dadurch wurde das Kreuz nicht ausgelöscht, aber sie schenkt uns die Gewissheit, dass das Scheitern nicht das letzte Wort behalten wird. Daran dürfen wir uns halten, auch wenn Gott schweigt und wir das Gefühl haben, er sei meilenweit von uns entfernt und unser Schicksal lasse ihn kalt. Darüber mit Gott zu hadern, ist erlaubt, aber schliesslich bleibt uns Christen nur eines übrig: einander betend in jenen klagenden Schrei hinüberzuhelfen: Herr, dein Wille geschehe, auch wenn ich ihn jetzt (noch) nicht verstehe! «Wo das Ein­­schwin­­gen in diesen Schrei gelingt, da ist auch dem fürchterlichen Leiden sein Stachel gezogen, da geschieht christliche Ergebung – oder eben: Kreuzes­nach­folge… wo sie geschieht, geschieht im­­mer ein Wunder, vor dem wir uns nur stumm und bewundernd verneigen können» (J. B. Brantschen).

Monsun in Sri Lanka. Foto © Caritas

Warum lässt Gott das zu?
Wir dürfen von dieser Hoffnung auf die Auferstehung am Ende der Zeiten jedoch nicht reden, solange wir uns nicht be­­mühen, den kranken, leidenden und am Boden liegenden Menschen schon hier und heute zu helfen und ihnen beizustehen. Wer nur fromme Sprüche aufsagt und sich nicht dafür einsetzt, dass jeder Mensch zu seinem Recht kommt, der macht aus Gott einen Lückenbüsser für seine Faulheit, seine Habgier und seinen Egoismus. Gerade im Zusammenhang mit dem Erdbeben in der Türkei und in Syrien wurde gefragt, warum Gott zulasse, dass dort so viele Menschen unter zusammengestürzten Häuser sterben mussten? Wenn dort die weitverbreitete Korruption und Misswirtschaft nur an die finanziellen Gewinne einzelner Politiker und Wirtschaftsleute denkt und Mil­lio­nen­beiträge durch dunkle Kanäle in die Säcke von mafiösen Organisationen und Privatpersonen fliessen, so kann man für das Kollabieren all dieser Gebäulich­kei­ten nicht Gott die Schuld in die Schuhe schie­­ben. Vielmehr sollen alle Menschen hier und heute damit anfangen, mutig und gelassen, sachlich und frei von allen Ideologien dafür zu kämpfen, dass unsere grausame Welt jeden Tag ein wenig menschlicher wird und Schurken das Hand­werk gelegt wird. «Handle so, als ob Gott nur deine Hände hätte, freue dich aber, dass Gott noch andere Hände hat. So kannst du nüchtern realistisch bleiben, standhaft ausharren und mutig weiterkämpfen, ohne fanatisch und zynisch zu werden und ohne zu resignieren.»
Als Christen leben wir aus der Hoffnung, einer Hoffnung, die das Leiden nicht ausschliesst oder durch das Leiden in Frage gestellt wird. Es ist die Hoffnung, dass Jesus Christus uns auch und gerade im Leiden nahe ist, weil er selber durch alles Leid der Welt hindurchgegangen ist. Ihm dürfen wir uns anvertrauen, weinend und klagend, denn er versteht uns. 

Besinnungsweg von Helmut Doll, Bad Kissingen. 

Deshalb möchte ich schliessen mit ei­­nem Zitat von H.-J. Venetz, der schrieb: 
«Vielleicht ist es kein Trost; aber hie und da bin ich dankbar dafür, dass Jesus nicht als Held gestorben ist, sondern als jemand, der zitterte und furchtsam sich zu Boden warf.
Vielleicht ist es kein Trost; aber hie und da fühle ich mich mit Jesus verbunden, der von seinem Vater nicht erhört wurde, der von Gott keine Antwort erhielt.
Vielleicht ist es kein Trost; aber hie und da erleichtert es mich zu wissen, zu hö­­ren und zu lesen, dass es diesem Jesus um nichts besser ergangen ist, als es uns ergeht. Offensichtlich ist er ganz in unsere Geschichte eingegangen.»

Paul Martone

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