Die Kanzlei

Kanzel Kathedrale Freiburg / Foto © Paul Martone

In manchen Kirchen gibt es sie noch: die Kanzel. An einer Wand hän­­gend schwebt sie gleich einem Ad­­lerhorst über den Besuchern des Gottes­hauses. Der Priester erreichte sie über eine meist steile Stiege und predigte von dort. Doch diese Funk­­tion hat die Kanzel längst verloren. Daher hängt die Kanzel in vielen Kirchen, in de­­nen sie nicht schon entfernt wurde, funk­tionslos herum. 
Das Wort Kan­zel stammt vom lateinischen und italienischen «cancelli» (Gitter, Schran­­­ken), denn die Kanzel war in der Frühzeit des Chris­tentums oft bei den Chor­schran­ken aufgestellt, also dort, wo sich die Trennung zwischen Kirchenschiff und Al­­­tarraum befand. «Erfunden» wurde dieses Red­nerpult im Mittelalter von den Predi­ger­or­den. In alten Kir­chen sind die Kan­zeln meistens an einer Mauer des Kir­chen­schiffs angebracht, damit die Gläubi­gen den Priester besser verstehen können, denn Mikrofonan­la­gen gibt es noch nicht sehr lange. Damit die Menschen die Pre­digt noch besser hören konnten, wurden ab dem 16./17. Jahrhundert die meisten Kanzeln mit einem Schalldeckel be­­krönt. Dieser sollte dafür sorgen, dass sich der Schall nicht an die Decke der Kirche verzieht, sondern sich gleichmässig im Kir­­­­chenraum verteilt. Oft thront Christus auf den Schall­deckeln der Kanzel, manchmal auch andere Heilige, wie etwa der alttestamentliche Mose. Über dem Haupt des Predigers und somit an der Unterseite des Schalldeckels ist häufig eine Heilig-Geist-Taube angebracht. Sie ist Symbol dafür, dass der Prediger in der Kraft des Heiligen Geistes die Schrift auslegt.
Im Zug der Liturgiereform wurden die Kan­­zeln in vielen Kirchen entfernt. Dort, wo sie überlebt haben, führen sie ein eher stiefmütterliches Dasein. Denn als Ort der Verkündigung des Evange­liums und der Predigt hat sich nach dem Zwei­ten Va­­tikanischen Konzil der Ambo etabliert. 
Sonst aber ist die Kanzel wie auch der Hoch­altar ein liturgischer Ort, welcher in der Liturgie nach dem Zweiten Vati­­ka­­nischen Konzil keine Rolle mehr spielt. Verständ­lich, denn in den Gottesdiensten von heu­­te, sollen die Leute nicht «abgekanzelt» werden, denn die Rede «von oben herab» wird als nicht mehr zeitgemäss empfunden. Zugleich soll auch deutlicher gezeigt werden, dass wir eine Re­­ligion auf Augenhöhe haben. 
Zu Recht sagt Abt Michael Reepen von der Abtei Münsterschwarzach: «Gott ist nicht oben, irgendwo in der Höhe, weit weg vom Menschen; Gott ist mit uns, er kommt runter auf unsere Ebene, in Jesus ist er auf Augenhöhe mit uns».
Paul Martone 

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