Die Sprache der sakralen Kunst

Die sakrale Kunst ist auch in der Schweiz reich an Epochen und Stilen. Heute erzählt sie uns von dem, was in den Herzen unserer Vorfahren lebte. 

Die Flucht nach Ägypten (um 1150), Kapitell  in Saint-Andoche, Saulieu, Frankreic. Foto Poss 

In der romanischen Epoche (11./12. Jh.) führt die Neuorganisation des religiösen Lebens zu einer Erneuerung des Bau­we­sens. Man baute, um die Präsenz des Papstes oder von religiösen Orden wie Cluny, die eine aussergewöhnliche Aus­strahlung hatten, sichtbar zu machen. Raoul Glaber, ein Benediktinermönch (ca. 985 –1047), schrieb dazu: «Im ganzen Universum … werden Kirchen neu gebaut … es schien, als ob die Erde, sich schüttelnd, ihre alten Kleider ab­­streifte und hier und dort einen weissen Mantel aus Kirchen anlegte.»
Die Gebäude sind nun «geostet», d. h. der Chor mit dem Altar befindet sich im Osten. Beim Betreten verlässt der Gläu­bige den Westen, die Seite der untergehenden Sonne, die den Tod symbolisiert, und schreitet zur Seite der aufgehenden Sonne, die die Auferstehung sym­bolisiert.

Die romanische Abteikirche von Payern.
Foto A. Salina

Die Spur der Jahrhunderte
In der französischsprachigen Schweiz gibt es keine rein romanischen Kirchen mehr. Die Jahrhunderte haben ihre Spuren hinterlassen.
Die Abteikirche von Romainmôtier, die Kirche von Saint-Pierre-de-Clages oder der Tempel von Saint-Sulpice zeugen von dem, was uns hauptsächlich aus die­­ser Zeit erhalten geblieben ist: eine Form von Gelassenheit und Nüchtern­heit.
Ab dem 13. Jahrhundert wird die Kirche monumental. Die Ausrichtung nach oben ist ein Bild für den Wunsch, sich zu Gott zu erheben. Es ist eine Zeit der Erneue­rung, die Wohlstand, Innovation und Lei­denschaftlichkeit miteinander verbindet. Die romanische Kunst wird allmählich durch einen neuen Stil aus Nord­frankreich ersetzt. Es beginnt die Zeit der Gotik.
Das Thema des Jüngsten Gerichts ist zwar sehr präsent, aber es ist nicht das Böse, das dominiert. Die Angst wird von der Hoffnung auf Erlösung begleitet. Wenn man die Werke betrachtet, nimmt das Paradies oft mehr Raum ein als die Hölle. Die Anwesenheit von betenden Hei­ligen zeigt Vertrauen auf ihre Für­sprache.

Die Kathedrale von Sitten. Foto P. Martone

Symbolische Sprache
Es wurde zwar viel darüber gesprochen, dass Kunst notwendig sei, weil das Volk nicht lesen konnte, doch das bedeutet nicht, dass es ungebildet war. Ganz im Gegenteil: Es verstand eine symbolische Sprache, die uns heute manchmal entgeht.
Die Kunst der Glasmalerei erlebte ihre Blü­­tezeit. Suger, der Abt von Saint-Denis, spricht vom «Geheimnis des Lichts als göttlicher Offenbarung».
Die Wände waren nicht so nüchtern, wie sie es heute sind. Das Seitenportal der Kathedrale von Lausanne bewahrt einige Spuren der Malereien, die damals die Skulpturen bedeckten. Die Makkabäer­kapelle in der Kathedrale von Genf vermittelt uns eine (wenn auch unvollkommene) Vorstellung davon, wie die Kir­chen ausgesehen haben könnten.

Triumphierender Katholizismus
Nach den Erschütterungen der Refor­ma­tion im 16. Jahrhundert versuchte das Kon­zil von Trient, auf die damals als «pro­­­testantische Bedrohung» wahrgenommene Situation zu reagieren. Die Kunst spielte dabei eine wichtige Rolle und wur­­de eingesetzt, um die zögernden Gläu­­­bigen zurückzugewinnen.Angesichts der reformierten Strenge wur­­den führende Künstler herangezogen,
um die Schönheit des Glaubens zu zeigen. Der Katholizismus wird dargestellt als eine triumphierende Religion, die die Herrlichkeit Gottes feiert.
In der Stadt Freiburg sind unter anderem das Altarbild der Augustinerkirche, oder im Oberwallis die Pfarrkirche von Reckin­gen Kostproben des Barockstils. Die schönsten Zeugnisse dieser Epoche finden sich jenseits der Saane, wie die Klosterkirche von Einsiedeln oder die Jesuitenkirche in Luzern.

Wer kennt sie nicht, die barocke Klosterkirche 
von Einsiedeln. Foto Sr Catherine.

Ein Weg zu Gott
Erst im 19. Jahrhundert tauchte der Be­­griff der Erhaltung der Kulturgüter auf. Damals wurde man sich dessen Reich­tums bewusst. Es geht nicht mehr um Innovation, sondern um Klassifizierung und Erhaltung. Eugène Viollet-le-Duc meinte: «Ein Gebäude zu restaurieren bedeutet nicht, es zu erhalten, zu reparieren oder wieder aufzubauen, sondern es in einen vollständigen Zustand zu versetzen, der zu einer bestimmten Zeit vielleicht nie bestanden hat.» Während in der Barockzeit die grössten Namen herangezogen wurden, wird vom Künst­ler nun verlangt, sich selbst zurückzunehmen. Das Werk sollte zu Gott führen.
Der neugotische Stil ist vorherrschend. Das Mittelalter wird als Beispiel für das vollkommene Christentum herangezogen. Die Basilika in Genf ist ein Beispiel für die Architektur der damaligen Zeit. 
Alexandre Cingria veröffentlicht 1917 La décadence de l’art sacré (Der Verfall der sakralen Kunst). Er prangert eine Kunst an, die einen gleichgültig lässt und somit ihre Aufgabe verfehlt. Der Künstler ist nämlich davon überzeugt, dass die Kunst zu Gott führen kann, der die Quelle der Schönheit ist. Der Mensch ist nicht reine Intelligenz. «Es ist unmöglich, als Mensch im reinen Geist zu urteilen, zu lieben, zu beten und anzubeten, so idealistisch man auch sein mag. Alle Be­­ziehungen des Menschen zu Gott gehen immer von den Sinnen aus.»
Unter den vielen Kritikpunkten, die Cin­gria anführt, findet sich auch der folgende: «Und wegen dieser Scheidung zwischen der Kunst und der religiösen Kunst (Art sacré) werden religiöse Geis­ter zu Feinden der Schönheit. Die Schön­heit, wenn sie sich ihren Augen in der modernen Kunst offenbart, stellt für sie die Sünde dar.» Es stimmt, dass es viele Widerstände gibt. Aber, der Domini­kanerpater Marie-Alain Couturier hat Recht, wenn er schreibt: «Es ist besser, sich an geniale Männer ohne Glauben zu wenden als an Gläubige ohne Talent […] Jede wahre Kunst ist heilig».

Die Zeit der Kontemplation
Wie sieht es heute aus? Das 2. Vati­ka­nische Konzil (1962–1965) sagte: «Freu­de und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände. 
Ist doch ihre eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus ge­­eint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilger­schaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist.» Sind die Kirchengebäude noch immer der Ort der Freuden und Hoffnun­gen, der Trauer und Angst der Menschen der heutigen Zeit? Spricht die Sprache der sakralen Kunst zu uns auch heute noch? 
Sicher ist, dass die Kunst auch heute noch spricht, die Schönheit hat ihre An­­zie­hungs­kraft nicht verloren. Sie zu verstehen braucht vielleicht eine Einführung, oder ein­­fach nur Zeit, um sie zu betrachten.
Amandine Beffa

Ringackerkapelle. Foto P. Martone

Prunk statt Einfachheit
Viele Menschen heute haben Mühe mit prunkvollen Kirchen, die oft eher der Verherrlichung der Stifter und Erbauer dienen, statt der Verherrli­chung Gottes.
Gott, der als Kind in einem Stall geboren wurde, werde in einem goldenen Käfig eingesperrt, um ihn von den Menschen, die ihn su­­chen, zu trennen. Deshalb soll man keine prunk­vollen Kirchen bauen. Mit diesem Geld könne man vielen Armen und Notleidenden helfen. Diese Frage hatten schon die Apostel damals bei der Sal­bung Jesu in Betha­nien auf den Lippen
Es geht bei allem nicht darum, den Reich­tum der Kirche zu zeigen, sondern es geht um die Anbetung Gottes. Für Christus ist nichts kostbar genug. Nicht der Mensch steht im Mittelpunkt, sondern das Haus, das dem lebendigen Gott geweiht ist. So haben es die Bau­meister und Künstler gesehen, die prunk­volle Kirchen errichtet und ausgestattet haben. Kirchen, kostbare Kelche und Messgewänder waren und sind Zeichen der Verehrung – und damit auch des Gottesdienstes im ganz sprichwörtlichen Sinne. Sie selbst stellen nicht den zentralen Wert dar, sondern verweisen auf die noch wertvolleren Gaben von Brot und Wein. Es ist wohl eine ganz natürliche Regung, dass man Dinge, die für jemanden wertvoll sind, auch rein äus­serlich wertvoll ausgestaltet. Martin Luther und dann vor allem Jean Calvin in Genf und Ulrich Zwingli in Zürich ha­­ben das anders gesehen:  «Dem katholischen Prunk und der Augenlust haben die Pro­tes­tan­ten das Ohr als Medium für Gottes Wort entgegengesetzt. Die Pre­­digt und der Gesang bestimmen die Li­­turgie, und die Kanzel rückt architektonisch in den Mit­­telpunkt» (Johann Hein­rich Claussen).
Die Kirche hat aber neben der Verschö­nerung der Kirchenbauten nicht die Men­schen vergessen, die arm sind. Die Kir­che als Gemeinschaft der Glaubenden führt seit­­ jeher zahlreiche Hilfswerke, Schu­len und Spitäler, die den Armen zugutekommen. – Auch hier gilt, dass man das eine tun soll, ohne das andere zu lassen.

Paul Martone

 

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