Die zwei Finger

Der Schöpfer Gott und der Täufer Johannes

Foto: DR
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Zwei Zeigefinger haben es in der Kunst «weit gebracht». Den ersten Zeigefinger er­­­­­kennen wir in einem der bekanntesten Fresken Michelangelos, mit denen er die Decke der Sixtinischen Kapelle schmück­­­te. Es ist die Erschaffung des Menschen, die bei Gott beginnt und auch, wie es das monumentale Werk des Endgerichtes an der Altarwand der Kapelle zeigt, bei ihm endet.

Die Erschaffung des Menschen

In seinem Fresko von der Erschaffung von Adam, zeigt uns Michelangelo (1475–1564) den Menschen, der nackt und ener­­gielos auf der Erde liegt. Der Fun­ke des Lebens geht von der ausgestreckten Hand Got­­tes an Adam über, von einer Fin­­gerspitze in die andere.
Adam wird durch den Finger Gottes aus dem Staub der Erde ins Leben gerufen. «Ich bin es, der die Erde erschaffen hat samt den Menschen und den Tieren, die auf der Erde leben, durch meine gewaltige Kraft und meinen hoch erhobenen Arm, und ich gebe sie dem, der recht ist in meinen Augen», heisst es im Buch Jesaja. Gott schafft etwas Neues, und zwar aus einer unendlich grossen Liebe heraus, die nur Gott schenken kann. «Ich liebe: ich will, dass du bist» hat der selige Johannes Duns Scotus (1266–1308) Gott in den Mund gelegt. Deshalb schauen sich Gott und Adam auch in die Augen, er tritt mit ihm in Austausch, spricht ihn mit «Du» an und lässt sich von ihm ebenfalls mit «Du» ansprechen.
Michelangelo hat Gott nicht in einem luft­­leeren Raum gezeichnet, sondern ihn mit einem roten «Tuch» umgeben, das sich bei genauerer Betrachtung als Quer­­schnitt durch das menschliche Herz erweist. Es gibt noch andere Deutungen dieses Tuches, aber mir gefällt das Herz am besten, denn es zeigt uns, dass wir Menschen aus dem Herzen Gottes entstanden sind. Wir dürfen sagen, dass Gott uns aus Liebe und Herzensgüte er­­schaffen hat, um seine unendliche Lie­­be mit jemandem teilen zu können. «Das Bild Gottes spiegelt das Bild Adams wider, und während sie einander in die Augen schauen, entsteht eine in­­tensive und schöne Verbindung zwischen ihnen» (Selena Mattei), die den Menschen sehn­süchtig auf Gott schauen lässt. Der tiefste Wunsch des Men­schen besteht darin, ganz in dieses Herz Gottes, aus dem er entstanden ist, zu­­rückzukehren und in ihm Heimat und Ruhe (wieder) zu finden, wie es der heilige Augustinus ge­­schrieben hat: «Auf dich hin, Herr, hast du uns geschaffen und unruhig ist unser Herz bis es Ruhe findet in Dir!» Auf diesem Weg sind wir Menschen nicht allein, sondern werden durch den Heiligen Geist geführt, er ist, wie es in der dritten Strophe im Hymnus «Veni Creator Spi­ritus» (Komm, Schöpfer Geist) heisst, der «Finger Gottes, der uns führt».

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Mut zur Lücke
Dem Betrachter fällt auf, dass Gott mit seinem Finger den Menschen erschafft, doch der Finger Gottes berührt den Fin­­ger des Adam nicht. Zwischen beiden Zeigefingern klafft jene winzige Lücke, die sich – fast im Zentrum des Bildes – vor der lichterfüllten Weite des Himmels abzeichnet. Das ist kein Zufall, sondern von Michelangelo gewollt, denn er hat überdeutlich gespürt: So nah Schöpfer und Geschöpf einander auch sind, so weit sind beide zugleich voneinander ent­­fernt. Gott hat den Menschen als seinen Partner erschaffen, wenn auch nicht als Partner auf gleicher Ebene; aber er nimmt den menschlichen Partner so ernst, dass er ihm Freiheit schenkt, sogar die Freiheit sich gegen ihn zu wenden. Des­halb muss zwischen ihnen eine Lücke klaffen, die zeigt, dass Gott uns nicht zwingt, auf seine schöpferische Liebe mit unserer Liebe zu antworten, denn eine erzwungene Liebe ist ein Widerspruch in sich. Die Lücke zwischen beiden Fin­­gern: ein Zeichen der Freiwilligkeit und der Freiheit, sogar der Freiheit sich ge­­gen Gott zu wenden. Gott kettet uns nicht an sich, sondern er nimmt uns ernst und lässt uns mit einem ungeheuren Vorschuss an Vertrauen unsere Freiheit. Er lässt uns frei, aber er verlässt uns nicht! Paulus betont, dass Chris­tus uns zur Freiheit berufen hat und dass wir Menschen uns bemühen sollen, dass uns das Joch der Knechtschaft nicht wieder auferlegt wird.  
Der geniale Künstler ist sich dieser Lücke zwischen Gott und Mensch bewusst. Unentwegt kreist Michelangelos Denken um die Lücke zwischen dem Finger Gottes und jenem von Adam. Denn an­­ders als Adam weiss Michelangelo als Mensch um diesen Abstand. Er kennt das Verlangen, diese Kluft zu überwinden, die Sehnsucht, dem Glanz und der Nähe des Göttlichen erneut teilhaftig zu werden. Deshalb war Michelangelo nicht nur ein genialer Künstler, sondern auch ein zutiefst gläubiger Mensch, der der Ge­­schichte Gottes mit dem Menschen ein Gesicht verlieh, ein Ansehen, im wahrs­ten Sinne des Wortes etwas zum Ansehen. 

Zeigen auf Jesus
Der zweite berühmte Zeigefinger ist jener von Johannes dem Täufer, dessen Ge­­burtstag die Kirche am 24. Juni feiert. Auf den ersten Blick betrachtet ist dieser Heilige ein «komischer Kautz». Ab­­ge­­sehen von seiner bildhaften Sprache war auch seine Kleidung nicht gerade chic, denn er trug ein Gewand aus Kamel­haaren und einen ledernen Gürtel um seine Hüften. Auch sein Menüplan war zumindest gewöhnungsbedürftig: Heu­schrecken und wilder Honig. So einen würde man heute in vielen Kreisen als verschrobenen Aussteiger und Öko­freak, oder bestenfalls als Vegetarier be­­zeichnen und vielleicht auch belächeln. Damit tut man diesem Menschen aber Unrecht, denn er war von Anfang an ein Auserwählter Gottes, dessen Geburt, wie bei Jesus durch den Engel Gabriel seinem Vater Zacharias angekündigt wor­­den war. Johannes’ Mutter war Elisa­beth, die dann tatsächlich in hohem Al­­ter mit ihm schwanger wurde. Während ihrer Schwangerschaft wurde sie von ihrer ebenfalls schwangeren Verwandten Maria aus Nazareth besucht, die dann bis zur Geburt des Johannes bei ihr blieb. Johannes ging als Erwachsener  zu­­­nächst in die Wüste und trat erstmals um das Jahr 28 öffentlich als Busspre­diger auf und kündigte das Kom­­men des von den Juden seit Jahrhun­derten er­­warteten Messias. Er taufte nur mit Was­ser als Symbol für die Rettung im kommenden Weltgericht und versammelte eine Schar von Anhängern um sich. Sein ganzes Leben hatte einen einzigen, aber umso grossartigeren Sinn: Das Zeigen auf Jesus! «Seht das Lamm Gottes, das hinwegnimmt die Sünden der Welt!»

Er ist die Wahrheit, die euch frei machen wird! Das war auch der Grund für seinen ge­­waltsamen Tod, denn er scheute nicht davor zurück König Herodes Antipas die unrechtmässige Verbindung mit seiner Schwägerin Herodias öffentlich vorzuhalten. Herodias verzieh ihm diese De­­mütigung nicht und stachelte ihre Toch­ter Salome auf, zum Dank für ihren Tanz vom davon entzückten Stiefvater Hero­des, den Kopf des Johannes zu fordern. Ein Wunsch, der ihr gewährt wurde. Die Verehrung des Täufers hat sich rasch verbreitet, oft wurde er dargestellt und viele Gotteshäuser sind ihm geweiht, dar­unter die Lateranbasilika in Rom, die «Mutter aller Kirchen auf dem Erden­rund». Neben Jesus und Maria ist Johan­­nes der einzige, dessen Geburtstag ge­­feiert wird, woran seine besondere heilsgeschichtliche Bedeutung sichtbar wird. 

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Der Isenheimer Altar 
Auf vielen Gemälden wird Johannes mit einem ungewöhnlich langen Finger dargestellt, mit dem er auf denjenigen weist, der nach ihm kommt, und der stärker ist als er, der nicht wert ist, ihm die San­da­len auszuziehen. 
Ganz besonders ist diese Szene auf dem Isenheimer Altar zu sehen, den Mathias Grünewald in den Jahren 1512 bis 1516 geschaffen hat. Dort ist der Finger des Johannes fast so lange wie sein Gesicht. Und mit diesem Finger gibt er uns die Richtung an. Er tut es nicht aus einer beliebigen Idee. Er tut es mit der Heiligen Schrift in der anderen Hand. Und über jenem Finger steht geschrieben, was der Hinweis bedeutet – der Satz im Johannes-Evangelium: «Er muss wachsen, ich aber muss abnehmen».

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Es lässt sich auch so übersetzen: Er, der Gekreuzigte, muss regieren und dem habe ich mich unterzuordnen. Nicht einer der Glanzlichter und Gernegross unserer Welt, nein! Er, dieser Geschlagene mit den Pestbeulen, hat im Mittelpunkt zu stehen, und von da aus hat man all das andere im nahen und fernen Um­­kreis zu sehen. Damit ist auch das Selbst­ver­ständnis des Täufers umschrieben: Jo­­hannes versteht sich selbst als einer, der ganz auf den Messias Jesus ausgerichtet ist. Jörg Sieger meditiert diese Szene auf dem Isenheimer Altar wie folgt:
«Schau auf ihn, sagt der Finger Johan­nes des Täufers. Du kannst an deinem Leid verzweifeln, du kannst es aber auch annehmen, denn selbst Jesus Christus hat gelitten und uns gezeigt, dass am Leiden kein Weg vorbeiführt. Gott selbst ist in den Tod gegangen. Aber es war kein sinn­­loses Sterben. Die Schuld der ganzen Welt hat er getragen und die ganze Mensch­heit erlöst».  
Dieser Altar stand in der Kirche des Spi­tals von Isenheim, unweit von Colmar, das vom Antoniterorden geleitet wurde. In diesem Spital wurden viele Menschen behandelt, die an Mutterkornbrand litten. Die im Mittelalter verbreitete Krank­heit löste stark brennende Schmerzen aus, die man deshalb «Heiliges Feuer» oder «Antoniusfeuer» nannte, das oft mit dem Absterben von Gliedmassen verbunden war. Dagegen gab es kaum ein Heilmittel. Der Körper von Grünewalds Jesus auf dem Isen­heimer Altar ist von grünbläulichen Wunden übersät – Kenn­zeichen von Mutterkornpilzbrand: Der Messias leidet am «Antoniusfeuer» – wie damals viele Menschen. Deshalb wollte der Altar den Betrachter erinnern:  Chris­tus hat sein Leid angenommen und Gott wieder als sein Opfer zurückgegeben. Und er hat es auch für dich getan, er hat für dich gelitten. Diese Worte schenkten den Betern und Beterinnen vor diesem Altar Trost und Hoffnung, die sie in ihrer Situation dringend brauchten. In diesem Christus konnten sich die Kranken im Spital wiederentdecken, denn Johannes mahnt die Nachfolgenden durch sein Hin­­weisen auf den Gekreuzigten, dass sie das, was geschah, für alle Zeit in Erin­ne­rung halten. 
Der Zeigefinger mahnt: Wenn ihr wissen wollt, worauf es wirklich an­­kommt, wenn der Tod mit seinen Boten, Begleitern und Helfern nahe ist, dann blickt auf Christus, den Gekreuzigten. Auch wenn ihr euch lieber von dieser zerschlagenen und gefolterten Gestalt abwenden möch­­tet: Den müsst ihr an­­schauen! Er ist das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt hinwegnimmt.


Paul Martone

 

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