Hin zu einer Kirche der Rentner

Foto: Flickr, Pxhere, Pixabay

Häufig werden vor allem unsere Werktagsmessen, aber auch die sonntäglichen Gottesdienste mehr­heitlich von älteren Menschen be­sucht. Dieses Phänomen zeigt sich auch auf der Ebene der Organisation der Pfar­reien. Be­­wegen wir uns auf eine Kirche der Rentner zu?

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Das 20. Jahrhundert war Schauplatz meh­­rerer demografischer Revolutionen. Die erste Feststellung ist der Rückgang der Sterblichkeit bei der Geburt sowie ein allgemeiner Rückgang der Frucht­bar­keit. Am auffälligsten ist jedoch die hö­­here Lebenserwartung, die das Ge­­sicht der Bevölkerung in der Schweiz völlig ver­ändert hat. Es gibt immer mehr Men­schen, die in den Genuss der Rente kommen, und es wird immer üblicher, dass einige das mehr als respektable Alter von 100 Jahren erreichen. Bevor wir über die Folgen dieser Entwicklung sprechen, sollten wir zunächst über die Bedeutung und den Wert des Alters sprechen.

Die Vorteile des Ruhestands
Wer in den Ruhestand geht, ist oft frei von den Sorgen um die Finanzen, vom Termindruck und von Hierarchien, von Kon­­kurrenz und Leistungsanfor­derun­gen. Sie werden ermutigt, sich wieder in der Gesellschaft zu engagieren, gemäss ihren Überzeugungen, ihrem Charisma und ihrem Glauben. Sie erkennen besser ihre authentische Sehnsucht nach dem «Sein» und nicht nach dem «Tun». Kurz gesagt, sie können freie und offene Entscheidungen über die Nutzung und den Umgang mit ihrer Zeit treffen. Auf diese Weise öffnet sich ihr Leben für eine ruhigere Zeit und die Möglichkeit, sich viel einfacher wohlwollend, bescheiden und frei zu verhalten und insbesondere denjenigen aufmerksam zuzuhören, denen sie auf ihrem Lebensweg be­­­geg­nen. Lassen Sie uns auch andere Werte erwähnen, die in der Heiligen Schrift her­­­­vorgehoben werden.

Die Heilige Familie aus dem Haus Canigiani (Sacra Famiglia Canigiani), die Raffael zwischen 1506 und 1508 in Florenz  für den Tuchhändler Domenico Canigiani geschaffen hat. Es zeigt die Heilige Familie, die Heilige Elisabeth (links), den Johannesknaben und zwei Engel. Das Bild befindet sich heute in der Alten Pinakothek in München. Foto: Flickr, Pxhere, Pixabay

Ältere Menschen in der Bibel
Schlagen wir also die Bibel auf, um die Bedeutung und den Wert des Alters besser zu verstehen. Das Buch Levitikus drückt sich wie folgt aus: «Du sollst vor grauem Haar aufstehen, das Ansehen eines Greises ehren und deinen Gott fürch­ten. Ich bin der Herr.» (Lev 19,32) Mehrere Senioren umgeben die Geburt Jesu: Zacharias und Elisabeth, die in
fortgeschrittenem Alter waren, gebaren Johan­nes den Täufer, den Vorläufer. Simeon «lebte in der Erwartung der Ret­tung Israels». Hanna, die 84-jährige Prophetin, «hielt sich ständig im Tempel auf und diente Gott Tag und Nacht mit Fasten und Beten» (Lk 2,37). Dies ist ein klarer Beweis dafür, dass ältere Men­schen weder arbeitslos noch vom Dienst ausgeschlossen sind! Es gibt keine Alters­grenze für den Dienst des Herrn.

Ältere Menschen in der Kirche
Und wie sieht es in der Kirche aus? Positiv ausgedrückt: Die Weisheit der Älteren, ihre eigene Spiritualität, ihr Zeug­nis, das meist auf einfache Weise zeigt, dass es möglich ist, ein ganzes Leben lang im Glauben zu stehen und das eigene Lebensende in einer ruhigen und zuversichtlichen Geisteshaltung anzugehen – all dies sind Merkmale, die authentisch und spezifisch mit dem Aufbau der Kirche und ihrer Ausstrahlung in der heutigen Welt verbunden sind. Zu diesen spirituellen Erwägungen kommen selbstverständlich auch Feststellungen des ge­­sunden Menschenverstandes hinzu. Älte­re Menschen stellen einen wesentlichen Teil der heutigen christlichen «Öffent­lich­keit» dar. Was würde aus unseren Sonn­tagsgottesdiensten werden, wenn man absurderweise alle Gläubigen über 60 Jahre aus den Gottesdiensten entfernen würde? Wer würde in unseren grossen Kirchenschiffen übrigbleiben? Die gleiche absurde Argumentation könnte auch auf unsere kirchlichen Dienste angewandt werden, auf lokaler, aber auch auf regionaler oder sogar diözesaner Ebene. Was wäre die Kirche ohne all die Freiwilligen, die sie sichtbar machen, die sie am Le­­ben erhalten? Und wie hoch ist unter die­sen grosszügigen Seelen der Anteil der Menschen, die im Ruhestand sind und ihre Freizeit grosszügig nutzen?

Zeugnisse
Es ist an der Zeit, diese in der Seelsorge engagierten Senioren zu Wort kommen zu lassen. Sara, in ihren Siebzigern, kümmert sich um den Blumenschmuck in ihrer Kirche. Sie berichtet: «Bei diesem kirchlichen Dienst “Blumenschmuck” ist das

Wertvolle, dass die Floristin die Texte der Liturgie zur Geltung bringt und gleich­zeitig der Pfarrei beim Beten hilft. Diese Aufgabe ist vielfältig und lässt dank des Reichtums der liturgischen Zeiten Raum für Fantasie: Wie kann man Freu­de, Schmerz und Hoffnung ausdrücken? Die Wahl der Blumen und ihrer Farbe, die Pflanzen und die Accessoires, die sie zur Geltung bringen, verleihen dem Blumen­ar­­rangement einen besonderen Platz in der Liturgie, der auch zur Schön­heit der Feier beiträgt. Wir müssen vor allem nach Ein­fachheit streben, um dem Blumenstrauss die wahre Be­­deu­tung des Lobpreises zu verleihen. Das unterscheidet uns von professionellen Floristen.

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Viviane, eine Frührentnerin, beteiligt sich am Leben ihrer Pfarrei als Sängerin im Chor, als Lektorin und als Vorsitzen­de des Pfarreirats. Sie erklärt uns die Gründe für ihr Engagement: «Mein Durst, Gott kennenzulernen, hat mich auf den Weg der Musiknoten und der liturgischen Akkorde von Cis-Dur zum B-Moll geführt. Mein Glaube hat grosse Schritte gemacht, als ich mich für die Lesung des Wortes en­­gagierte, bis ich meine Pfarrei mit Stolz unterstützte, indem ich akzeptierte, Vor­sitzende des Pfarreirats zu werden. Eine Quelle der Bereicherung, des Gebets, des Aus­tauschs und der Begegnungen.»

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Wo sind die jungen Leute?
Die Rentner sind sich bewusst, dass sie nicht ewig leben werden. Ich hatte einmal einen 70-Jährigen, der im Organisations­komitee des Patronatsfestes seines Dor­fes war, erwischt, wie er einen Erwach­senen in den Vierzigern zur Rede stellte. Er wies ihn darauf hin, dass das Durch­schnittsalter des Komitees bei über 60 Jahren lag. Es war also dringend notwen­dig, über Nachwuchs nachzudenken. Und das ist das grundlegende Problem. Es betrifft nicht nur die Pfarreien, sondern die gesamte Gesellschaft. Ein Be­­weis dafür ist die Schwierigkeit, Kandi­daten für die Gemeinderatswahlen im Wallis zu finden. Eine Partei hat sogar eine An­­zeige in einer Zeitung geschaltet und den Inte­ressenten eine 15 % bezahlte Arbeits­zeit versprochen! An­­dererseits ha­­ben die Walliser Gemeinden, die um die Erneue­rung ihrer Gemein­de­behörden be­­sorgt sind, im ganzen Kan­ton eine Rekru­tie­rungskampagne mit dem Titel «Sitz dich ein!» gestartet.

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Die Zivilisation der Freizeit
Wie ist es dazu gekommen? Liegt die Ant­wort nicht im Aufkommen der sogenannten Konsumgesellschaft? Das neueste Auto, das neueste Smartphone, das
neueste Parfüm einer grossen Marke, die neueste Jacke aus der angesagten Bou­tique – die Konsumgesellschaft hat seit Jahrzehnten unsere Hütten erobert. Un­­sere moderne Gesellschaft scheint sich in diesem ungezügelten Drang zu pro­­duzieren und zu konsumieren, zu erfüllen, und das zum angeblichen Glück aller!
Hinzu kommt die Entstehung einer weiteren Gesellschaft, der Unterhaltungs­ge­sell­­schaft. Es ist schwierig, all die Frei­zeitmöglichkeiten zu überblicken, die von den Tourismus-, Kultur- und Sportämtern jede Woche mit Blick auf das Wochen­ende angeboten werden. Man erstickt in der Fülle von Veranstaltungen aller Art, die dazu einladen, das Wohlbefinden und das Vergnügen eines jeden Einzelnen zu fördern. «Trag Sorge zu dir!» Dieser mo­­derne Ausdruck, der in Fernsehsen­dun­gen und -reportagen immer wieder verwendet wird, zeigt, dass wir uns immer weiter vom christlichen Ideal entfernen, das darin besteht, sein Leben zu geben, damit andere Menschen leben können.
Was schliesslich unsere Kirche betrifft, die auf dem Weg ist, eine Rentnerkirche zu werden, ist es wichtig zu betonen, dass wenn sich die Welt ändert, sich auch die Kirche ändert. Junge Christen ziehen ein Engagement vor, das dem Bild eines Fotoblitzes gleicht. Sie sind da­­mit einverstanden, sich zu Millionen bei den Weltjugendtagen (WJT) zu versammeln, aber sie werden sich dennoch nicht in einem Pfarreirat engagieren, der eine lang­­fristige Mitarbeit erfordert.
Die Zukunft gehört Gott und es könnte gut sein, dass diejenigen, die von dieser Freizeitzivilisation erstickt werden, entdecken, dass Geben mehr Freude bereitet als Nehmen; dass Grosszügigkeit und Selbst­hingabe Werte sind, die einen er­­füllen und glücklich machen, andere und sich selbst.
Calixte Dubosson

 

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